Marion Gibson, Witchcraft: Hexenjagd von Innsbruck bis zum Polarkreis
Ich sag’s, wie es ist: Mein Entscheidungsprozess für dieses Buch war nicht „Ah, ausgezeichnet, ich möchte mich über die juristische Entwicklung von Hexenverfolgungen weiterbilden“. [Klassische Musik im Hintergrund] Eher so: „He, cooles Cover.“
Also habe ich mir ein Sachbuch zu Prozessen gekauft. Bold choice für jemanden, der oft die Aufmerksamkeitsspanne von einem Welpen hat, aber okay. Es hat sich zum Glück gelohnt. Witchcraft ist weniger eine trockene Abhandlung von Gesetzestexten als eher eine Mischung aus Geschichtsunterricht und Netflix-Doku.
Aber mal von vorne.

Inhaltsverzeichnis
Worum geht's?
Wie der Titel schon sagt: 13 Gerichtsprozesse rund um die Geschichte der Hexenverfolgung.
Wir bewegen uns von Innsbruck im 15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit zum Fall Stormy Daniels vs. Trump. Aufgeteilt ist das Ganze in drei Blöcke:
- Wie ist das alles eigentlich losgegangen (Origins)?
- Wie haben sich diese Ursprünge auf das 19. und 20. Jahrhundert ausgewirkt (Echoes)?
- Was bedeutet „Hexenjagd“ heute (Transformations)?
Einfach mal ein paar Jahrhunderte auf rund 250 Seiten runterreißen, aber bitte gut zugänglich und gleichzeitig nicht oberflächlich (looking at you, Harari) – das ist schon ein gewaltiger Aufwand. Allein dafür: Respekt.
„Gut zugänglich“ ist natürlich immer subjektiv. Aber ich persönlich hatte bei Witchcraft selten bis nie dieses klassische Sachbuch-Lesegefühl von „Da muss ich mich jetzt durchbeißen“.
Sometimes, the unlikeliest thing can spark a witch trial.
Marion Gibson
Achtung, Buzzword: Nie ohne ... Storytelling

Muss man sich im Buch mit Gesetzestexten herumschlagen? Nein, nicht wirklich. Stellenweise zitiert Gibson zwar Gerichtsdokumente und Aussagen, aber insgesamt ist das Buch eher als Erzählung aufgebaut.
Auch hier: Narrative Elemente in Sachbüchern kann man mögen oder nicht. Ich finde, in diesem Fall ist der erzählende Ansatz ganz hilfreich.
Szenische Einstiege, Hauptcharaktere, Spannungsbögen: Was will man mehr. Wie eine Netflix-Doku zum Lesen quasi.
Das Kapitel „Magical Murder at the End of European Empire“ fängt zum Beispiel so an:
In a dusty red ravine just beyond the last huts of the village there’s a steep-sided gully with a pool in the bottom. In the pool a body lies, face down, half-naked and muddied – a pitiful sight. It’s the body of a young man with epilepsy, ’Meleke Ntai. Two days ago […] ’Meleke went to a funeral with his cousins, riding together on their bony horses through the heat of the day. It’s autumn in Lesotho, and temperatures are beginning to fall at night […].
Marion Gibson
Ist es grundsätzlich immer gut, wenn historische Ereignisse zu einer Story verarbeitet werden? Naaaaja, anderes Thema. Aber hier funktioniert es, auch, weil die Erzählung nie ins Seichte abrutscht. Ja, hier und da ist ein kleines bisschen Pathos drin. Aber das lässt sich verschmerzen, finde ich.
Bonuspunkte für Sensibilität
Hexengeschichten haben oft diesen extrem unangenehmen voyeuristischen Beigeschmack: Werden jetzt die Daumenschrauben angelegt? Kommt die am Ende auf den Scheiterhaufen? Kraaaass … Danke, nein, ich brauche nicht noch eine Darstellung von Gewalt.
Man merkt, dass Gibson auf dieses „Ausschlachten“ explizit verzichtet. Zwar lässt sich das Thema schlecht behandeln, ohne über den oft gewalttätigen „Verhör“-Prozess zu schreiben, oder über das, was nach dem Urteil passiert. Aber der Respekt gegenüber den Opfern zieht sich konsequent durch das Buch. Find ich gut.
Fazit: Wieder was gelernt
Wenn du dir ein hochakademisches Buch mit 100 % neutraler Berichterstattung erwartest: Das ist Witchcraft nicht. Gibson stellt rhetorische Fragen, versetzt sich in die Perspektive der Angeklagten – eine subjektive Einfärbung ist definitiv da. Was ich persönlich gar nicht schlimm finde.
Genau wie die Tatsache, dass das Fazit des Buchs jetzt nicht unbedingt überraschend ist. Misogynie, die Institution Kirche, Kolonialismus, Homophobie, Ableismus und Ageismus als treibende Kraft hinter Ausgrenzung: Ein Mindblow ist das nicht.
Aber braucht es den zwingend immer? Nö. Ich habe aus dem Buch trotzdem viel Neues mitgenommen, zum Beispiel,
- mit welchem Werk die ganze Misere im 15. Jahrhundert losgegangen ist,
- wer die Vardø-Hexen waren oder
- dass es auch während des Zweiten Weltkriegs Hexenprozesse gab.
Wenn du das Thema grundsätzlich interessant findest, würde ich also sagen: gib dem Buch eine Chance. Auch, weil die Kapitel mehr oder weniger für sich allein stehen. Du kannst also theoretisch mal eine Pause machen und später wieder einsteigen.
So. Und wenn du jetzt doch lieber erst mal was Kürzeres lesen willst: bitteschön, hier zum Abschluss noch mein Lieblingstweet.
Kurz und knapp: Eckdaten
Gesamteindruck:
7 von 10
Bibliografische Daten:
Marion Gibson, Witchcraft. A History in 13 Trials. Simon & Schuster (2023). 299 Seiten.
ISBN: 978-1-3985-0850-7
Deutsche Version (übersetzt von Karin Schuler & Thomas Stauder):
Hexen. Eine Weltgeschichte in 13 Prozessen vom Mittelalter bis heute. Aufbau Verlag (2024). 465 Seiten.
ISBN: 978-3-351-04222-6